Nur sehr zaghaft kämpfen sich die Sonnenstrahlen durch das ehrwürdige Gemäuer der gut 600 Jahre alten Tempelanlage. Das Innere ist getränkt in gedämpftes Licht, mystisch, mysteriös und geheimnisvoll. Die Silhouetten von Skulpturen und Intarsien zeichnen sich im Halbdunkel ab. Im Schummerlicht möchte man meinen, sie erwecken zum Leben. Doch der Tempel lebt in der Tat. Plötzlich erkennt man einen Umriss, der zwischen den Nischen des Mauerwerks umherhuscht. Ein weiterer kommt hinzu, nur einen Augenblick später sind es Hunderte, dann Tausende. Massenhaft fallen sie durch die Löcher und Spalten der Tempelwände, sie sind überall.
Ein wahrer Exodus langgezogener gräulich-brauner Körper mit dunklen Knopfaugen, die aus verfranztem Fell hervorleuchten. Als gute Kletterer gelangen sie in Windeseile über die Treppenstufen in das Gebälk des Tempeldaches und balancieren dabei gekonnt mit ihren langen, nackten Schwänzen. Sie huschen hin und her auf der Suche nach Essbarem, das Gedränge ist groß an und in den zahlreichen Futter- und Wasserstellen. Und auch der Besucher wird nicht verschont, denn so manches Hosenbein ist einladend für eine kleine Kletterpartie. Willkommen im Karni-Mata-Tempel, Indiens heiligem Rattentempel.
Im beschaulichen Deshnok, rund 30 Kilometer südlich der geschichtsträchtigen Metropole Bikaner im Norden des Bundesstaates Rajasthan eröffnet sich mit dem Karni-Mata-Tempel Indienreisenden eine auf dieser Welt vermutlich einmalige Attraktion. Der hinduistische Tempel ist Heimat für rund 25.000 Ratten, die dort gehegt, gepflegt und verehrt werden, und seiner Namensgeberin Karni Mata gewidmet.
Karni Mata gilt als Reinkarnation von Durga, der weiblichen Urkraft des Universums. Sie soll im 14. und 15. Jahrhundert gelebt haben und bereits zu Lebzeiten als Heilige verehrt worden sein. Des Weiteren ist Karni Mata die Schutzgöttin der Rajputen, insbesondere der Fürstenfamilie von Bikaner und Jodhpur.
Der Legende nach wurde Karni Mata von ihren Anhängern ein ertrunkener Fürstensohn gebracht, um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Laut einer Variation der Legende handelte es sich hierbei um ihren eigenen Stiefsohn Laxman. Sie begab sich in Trance und forderte den Totengott Yama auf, die Seele des Jungen zurückzugeben. Yama verweigerte dies jedoch mit der Begründung, dass das Kind bereits wiedergeboren sei.
In ihrem Zorn verfügte Karni Mata, dass niemand ihres Volkes nach dem Tod in das Totenreich des Gottes Yama eintreten werde, sondern als Ratte in ihrem Tempel wiedergeboren wird und schließlich als geachteter Barde aufersteht. Einer anderen Version nach war die Wiedergeburt als Ratte eine Bedingung von Yama, um die Seele des Jungen zurückzuholen.
Die Ursprünge der berühmten Tempelanlage reichen etwa 600 Jahre zurück, ihr aktuelles Erscheinungsbild erhielt sie allerdings erst im 20. Jahrhundert. Bereits das große, reich verzierte Eingangsportal und die massiven Tore aus Silber lassen erahnen, was einen im Inneren erwartet. Hinter den rosafarbenen Mauern ist die gesamte Struktur des Karni-Mata-Tempels mit edlem weißen Marmor verkleidet, der besonders im Licht der auf- und untergehenden Sonne anmutig schimmert.
Die Tempelarchitektur ist in ihrer Symmetrie stark vom Mogul-Stil beeinflusst. Kunstvolle Gold- und Silberverzierungen, wunderschöne Marmorschnitzereien und detailverliebte Tafeln, die diverse Legenden um Karni Mata darstellen, verleihen dem Bauwerk einen ganz speziellen Glanz. Die Erweiterung des Tempels im 20. Jahrhundert ist einer großzügigen Spende des damaligen Maharadschas von Bikaner, Ganga Singh, zu verdanken.
Im allerheiligsten Inneren des Rattentempels, welches ausschließlich von Hindus betreten werden darf, bildet die Dreizack schwingende Statue Karni Matas unter einem goldenen Baldachin den spirituellen Fixpunkt. Ihr zu Füßen werden den Ratten Speisen, Milch und Wasser in Schalen aus Bronze oder SIlber kredenzt. Zum Schutz der Ratten vor Prädatoren aus der Luft ist der nach oben hin offene Bereich des Tempels noch durch ein Netz geschützt.
Die Ratten im Tempel sind heilig und tragen dem Glauben der Einheimischen nach die Seelen verstorbener Vorfahren in sich. Selbstverständlich gibt es im Tempel daher auch einige Verhaltensregeln und Aberglauben.
Wie es die Hindu-Tradition will, muss jeder Besucher vor dem Eingang seine Schuhe ausziehen. Vor allem für Touristen stellt dies aufgrund des emsigen Nagergewusels oftmals eine ziemlich große Herausforderung dar. Für Nicht-Hindus gibt es dabei eine Ausnahmeregelung. Wem also die Vorstellung, barfuß durch einen Tempel voller Ratten zu flanieren, nicht behagt, darf die Socken anbehalten.
Die flinken Ratten sind an Menschen gewöhnt und kennen ihnen gegenüber keine Scheu. So kann es gut passieren, dass eine Ratte schon mal über die Füße läuft oder am Hosenbein hochkraxelt. Aber keine Angst – das soll Glück bringen. Die Ratten werden von den gläubigen Besuchern gefüttert. Eigentlich eher zum gemeinsamen Essen eingeladen, denn alles, was von den Nagern angeknabbert wurde, gilt als heilig. Sehr viel Gutes verheißen weiße Ratten. Das Erblicken von ihnen wird als Segen angesehen. Bis zu Stunden verharren die Hindus mitunter vor den Mauerritzen und versuchen, einen der seltenen weißen Nager mit Leckereien anzulocken.
Im Tempel sollte man sich vorsichtig bewegen und darauf achten, die Ratten nicht zu verletzen. Wer eine Ratte versehentlich tödlich verletzt, muss diese begraben und dem Tempel eine Spende in Form einer Ratte aus Silber oder Gold darbringen. Außerhalb der Tempelmauern gelten die Nager übrigens nicht als heilig, sondern als Schädlinge. Sie werden gejagt, eingefangen und weit entfernt wieder ausgesetzt… lebendig und unverletzt.
Der weltbekannte Karni-Mata-Tempel mag für Touristen eine äußerst skurrile Sehenswürdigkeit sein. Für gläubige Hindus ist er jedoch von großer spiritueller Bedeutung. Sie pilgern zum Teil von weit her, um mit den heiligen, pelzigen Tempelbewohnern in Kontakt zu treten. Das sollte auch von Nicht-Hindus aus Ehrfurcht vor deren Religion respektiert und die Gläubigen bei ihren spirituellen Zwiesprachen mit den Ratten nicht gestört werden.
Obgleich im Tempel Mensch und Ratte sich auf engstem Raum ungewöhnlich nah kommen, ist der Ort von jeglicher Epidemie oder Seuche verschont geblieben. Der Besuch des Rattentempels ist fürwahr abenteuerlich und nichts für schwache Nerven. Dabei sind die vermeintlichen Schädlinge alles andere als gefährlich.
Eine eventuelle Abscheu vor den Nagern ist also reine Kopfsache und wer sich erst einmal darauf eingelassen hat, kommt zu einer wahrhaft einzigartigen Erfahrung. Auf unseren Nordindien Reisen durch Rajasthan lässt sich ein Ausflug zum Karni-Mata-Tempel in Deshnok wunderbar von Bikaner aus einplanen. Für die Besichtigung des Rattentempels benötigen Sie in der Regel nur wenige Stunden.
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